Rezension || Gastbeitrag: Gott von Ferdinand von Schirach

by Marie-Theres Werner
Beitragsbild zu Gott von Ferdinand von Schirach
4.6
(5)

[su_heading style=”modern-1-dark” size=”21″]KLAPPENTEXT ZU GOTT[/su_heading]

„Wem gehört unser Leben? Wer entscheidet über unseren Tod?
Richard Gärtner, 78, ein körperlich und geistig gesunder Mann, will seit dem Tod seiner Frau nicht mehr weiterleben. Er verlangt nach einem Medikament, das ihn tötet. Mediziner, Juristen, Pfarrer, Ethiker, Politiker und Teile der Gesellschaft zweifeln, ob Ärzte ihm bei seinem Suizid helfen dürfen. Die Ethikkommission diskutiert den Fall.“ (Quelle: Luchterhand Literaturverlag)

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[su_heading style=”modern-1-dark” size=”21″]VINCENTS MEINUNG ZU GOTT[/su_heading]

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
So lautet der erste Satz des Grundgesetztes unserer Verfassung. Er sichert jedem Menschen eine unabdingbare Würde zu. Dieses Grundprinzip unserer Gesellschaft hat Ferdinand von Schirach bereits 2015 mit dem Theaterstück Terror zur Diskussion gestellt. Jetzt hat er es wider getan: In Gott, einem Theaterstück, das seine Premiere sowohl auf den Bühnen Deutschlands als auch in den Regalen der Buchhändler feierte, stellt er jedem seiner Zuschauer oder Leser die Frage: Was passiert, wenn ein Mensch sterben will? Darf man ihm dabei helfen?

Während man in Terror auf der Richterbank eines Gerichtssaals sitzt ist man in Gott Mitglied des Deutschen Ethikrates, einem Gremium, das es wirklich gibt und welches immer wieder ethische Fragen der Gesellschaft diskutiert und entsprechende Empfehlungen an die Bundesregierung abgibt. Sonst ist Ferdinand von Schirach aber seinem Stil treu geblieben: In kurzer verständlicher Sprache werden dem Leser Argumente über Argumente präsentiert. Dabei tauchen die einzelnen Akteure zwar stets tief in ihr jeweiliges Fachgebiet ein und begründen so ihren Platz im Stück, trotzdem verlieren sie sich nie in Abhandlungen fern vom Thema oder in zu speziellen Begrifflichkeit, die kein normaler Mensch mehr versteht.
Die Rahmenhandlung ist relativ simpel und fest: Ein Saal, in dem der Ethikrat tagt. Nach und nach werden verschiedene Experten zu ihrer Ansicht dazu befragt, ob Richard Gärtner von seiner Ärztin eine tödliche Dosis Pentobarbital bekommen sollte oder nicht. Die Spannung liegt hier, ähnlich wie im Vorgängerstück Terror, nicht in der Handlung, sondern in den Argumenten, mit deren Hilfe man sich eine Meinung darüber bilden soll, ob und wie Gärtner sterben darf.

Wenn man Gott auf der Bühne erlebt, stimmt man als Zuschauer, nachdem alle Argumente besprochen wurden, darüber ab, ob es richtig ist, dass der kerngesunde Mann ein tödliches Mittel bekommt. Beim Lesen entfällt diese Abstimmung natürlich und man muss sich stattdessen im „stillen Kämmerlein“ für eine Seite entscheiden. Allerdings ist die Abstimmung in Gott vor allem symbolisch. Egal wie man sich entscheidet, man liest das selbe Ende der Handlung, denn der Ethikrat kann, anders als ein Gericht, keine Entscheidungen treffen oder Urteile fällen. Er kann nur seine Meinung sagen. Hier lässt Gott eine große Chance liegen, denn so ist die Entscheidung, die man für sich selbst trifft, praktisch ohne Folgen. Vor allem wenn man das Stück als Buch vor sich liegen hat ist dieser Weg sehr enttäuschend, denn der Text enthält nur einen kurzen Abschnitt für die Ergebnisse. Dieser hält nur ein paar Platzhalter für das im Saal erreiche Abstimmungsergebnis bereit. Wenn man das Stück aber als Lektüre vor sich hat, entscheidet man sich nur für sich selbst. Es gibt keine Abstimmung und damit auch keine prozentualen Ergebnisse, die man in den Textsatz einbauen könnte. Dadurch, dass es nur ein Ende gibt, wirkt die eigene Entscheidung verschenkt, denn man hätte sie nicht treffen müssen, um das Buch beenden zu können.

Trotz dieser vertanen Chance ist Gott ein weiterer Geniestreich Schirachs, denn er schafft es erneut, den Leser weg von seinem gefestigten Normengerüst und auf ein Hochseil zu führen, auf dem man ständig zwischen richtig und falsch taumelt. Wieder einmal bringt er einen in die Verlegenheit, zwischen Recht und richtig zu entscheiden. Das Gesetz hat auf die Frage, ob Richard Gärtner ein Medikament erhalten darf, um sich selbst zu töten, eine klare Antwort. Die Frage, die Gott einem serviert, ist aber eine andere. Es ist die Frage, ob dies richtig ist.

Der Rechtsstaat ist ein Konstrukt unserer Gesellschaft. Meistens ist es einfach, sich hinter seinen klaren Regeln zu stellen: Natürlich darf man den Zaun des Nachbarn nicht abbauen oder sich ein wildfremdes Auto zu eigen machen. Aber auch unsere wilde Gesetzeslandschaft hat Grenzen zu dem, was uns noch als nachvollziehbar erscheint. Diese Grenzen werden besonders schnell erreicht, wenn es nicht mehr um einfache Gesetzesfragen, sondern um die Auswirkungen unserer verfassungsrechtlichen Prinzipien geht. Begriffe wie „die Würde des Menschen“ klingen zwar schön, aber was muss man sich wirklich darunter vorstellen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Bezug auf die Sterbehilfe eine Antwort darauf geliefert: Menschen haben die Freiheit selbst über das Ende ihres Lebens zu bestimmen, allerdings darf man ihnen dabei nicht helfen. Das ist rechtens aber ist das richtig? Ist das moralisch?

Genau vor diese Frage stellt Ferdinand von Schirach seine Leser in Gott und er bringt einen beim Lesen immer wieder in die Bredouille, denn auch das, was die Gegenseite zur eigenen Meinung sagt, klingt oft sinnvoll und einleuchtend. So konstruiert von Schirach erneut eine Stolperfalle für das eigene Rechtsverständnis, in die man sich als Leser begibt. Er gibt einem die Möglichkeit, eine Frage aus anderen Perspektiven zu betrachten, die man sich selber vielleicht nie gestellt hätte. Darin ist Gott genau so meisterhaft wie es auch schon Terror war, nur das Ende lässt leider etwas zu wünschen übrig.

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Hinweis für Interessierte: Wie auch bei Terror sind die Abstimmungsergebnisse der Theateraufführungen von Gott online gesammelt zu finden: gott.theater

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[su_box title=”Hinweis” box_color=”#efefee” title_color=”#000000″ radius=”0″]Diese Rezension sowie die untenstehende abschließende Bewertung basieren einzig und allein auf Vincents subjektiven, ehrlichen Meinung. Alle angesprochenen Kritikpunkte sowie Verbesserungsvorschläge können nicht auf die allgemeine Leserschaft des Buches bezogen werden. [/su_box]

[su_heading style=”modern-1-dark” size=”21″]ECKDATEN ZU GOTT[/su_heading]

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Cover zu Gott von Ferdinand von Schirach

Quelle: Luchterhand Literaturverlag

[/su_column] [su_column size=”1/2″ center=”no” class=””]Erscheinungstermin: 14.09.2020
Seiten: 160
ISBN: 978-3-630-87629-0
Autor: Ferdinand von Schirach
Preis: 18€ (Hardcover), 13,99€ (E-Book), 18€ (Hörbuch)

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[su_heading style=”modern-1-dark” size=”21″]INFORMATIONEN ZU FERDINAND VON SCHIRACH[/su_heading]

Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen „großartigen Erzähler“, die New York Times einen „außergewöhnlichen Stilisten“, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei „eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur“. Die Erzählungsbände Verbrechen, Schuld und Strafe sowie die Romane Der Fall Collini und Tabu wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Sein Theaterstück Terror zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm sein persönlichstes Buch Kaffee und Zigaretten, das Theaterstück Gott sowie der Band Trotzdem (mit Alexander Kluge). (Quelle: btb Verlag)

 

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